Selig vor Weihnachten

23. Dezember 2018 0 Von Arlette

Es gibt diese Bands, ich hab es dieses Jahr schonmal erzählt, die sind gefühlt immerschon wichtig. Gitarre, Bass und Schlagzeug sind in meiner Welt völlig ausreichend, um mich sehr, sehr froh zu machen, musikalisch gesehen, und neben den Smashing Pumpkins, Nirvana, Pearl Jam, Soundgarden, Alice in Chains, Oasis, Rage against the machine und später den Foo Fighters gehören seit inzwischen fast unglaublichen 25 Jahren (okay, es gab gute zehn Jahre, in denen eigentlich davon auszugehen war, dass es kein viertes Album geben wird, aber auch in dieser Zeit liefen die Alben eins bis drei immer wieder mal) immer auch Selig dazu. Dauersoundtrack in meinen ersten Autos (unfassbar, ich fahre seit über FÜNFUNDZWANZIG JAHREN AUTO!), die Band, deren Texte mir bis heute so oft mitten aus der Seele sprechen, deren Melodien einfach genau mein Ding sind, diese Band feiert also demnächst quasi Silberhochzeit mit ihrem ersten Album.

25 Jahre, ein Vierteljahrhundert, ich finde unglaublich, dass das so lange her sein soll, dass wir “Mädchen auf dem Dach” lauthals mitgesungen haben, in meinem klapprigen R4, auf dem Weg zu oder von irgendeiner Party. 25 Jahre, seit mit “ohne Dich” tiefer Herzschmerz so unvergleichlich intensiv vertont und betextet wurde. 25 Jahre, seit Selig mit “Heyheyhey” mein Lebensgefühl mit 18 perfekt auf den Punkt gebracht haben. Das Debutalbum ist bis heute mein Soundtrack zum gerade eben volljährig sein, zum Versuch, den eigenen Weg zu finden, dabei zu solpern, hinzufallen und wieder aufzustehen, weiterzugehen, falsch abzubiegen und dabei immer mehr ich selber zu werden. Und nicht zuletzt hat die Band in gewisser Weise Anteil daran, dass ich 1996 mein achwiesosuperes Journalistikstudium in München geschmissen habe, um in die einzige Stadt zu ziehen, in der ein Leben möglich ist, nämlich Hamburg. Was man halt so für Ideen hat, mit noch nicht ganz 21 und dem Kopf voller jugendlicher Arroganz.

 

Wie jung wir doch alle mal waren…

Das müßte etwa 1995 gewesen sein. Ich weiß es nicht mehr so genau, in den Vor-Smartphonezeiten haben Bilder nicht zwingend ein Datum erhalten.

Selig also. Ein Zustand, ein Gefühl, und die für mich wichtigste Band von allen. Immer, wenn es wirklich wichtig war und ist, lief und läuft Selig. Insofern ist es kein Wunder, dass ich nicht sonderlich lang überlegt habe, als ich die Ankündigung für noch ein Konzert 2018 gelesen habe. Selig spielt Selig, in Hamburg, im Grünspan, vier Tage vor Weihnachten. Mehr geht nicht in meinem musikalischen Universum. “Meine” Band, in meiner Stadt, auf meinem Kiez – Weihnachten ist für mich ganz persönlich dieses Jahr schon am 20.12. gewesen. Ich hab ein Ticket gekauft, ohne vorher zu überlegen, ob und wie das mit den Kindern und dem anderen Vorweihnachtsheckmeck wohl hinhaut, und das war auch gut so. Das Konzert war im Handumdrehen ausverkauft, und auch wenn die “Selig spielt Selig”-Tour 2019 auch ins Berliner Exil führt, bin ich superdankbar, in Hamburg dabeigewesen zu sein. Das war sehr besonders, und ein Seligkonzert in Hamburg hatte ich zuletzt 2009, als die große Liese ein Vierteljahr alt war. Grund genug für eine Reise in die Herzenstadt.

Die Tickets für Berlin liegen, na klar, auch schon hier. Aber bis Mai ist es ja mal noch ein paar Tage hin.

Shirtsanierung. Die erste silberne Textilfarbe hat nicht so richtig gut gehalten, mir dafür aber glitzerige Wäsche beschert. Auch was wert. Diese hier hält jetzt, das T-Shirt liegt schon wieder gewaschen im Schrank und diesmal ist die Farbe geblieben, wo sie sein soll.

Abreise. Die große Liese, die am Donnerstag kränkelnd früher aus der Schule kam, war glaube ich sehr erleichtert, als ihre peinliche, Luftgitarre spielende und laut singende Mutter endlich aus dem Haus war. “Mama, echt mal. Du kannst nicht singen.” Stimmt auffallend, macht aber nix weil fällt auf einem Konzert, wo alle mitsingen eh nicht auf.

Auch nach inzwischen ziemlich exakt neun Jahren Exil in Berlin tut es noch weh, dass dieser Bahnhof nicht mehr mein Heimatbahnhof ist, sondern nur noch mein liebster Aussteigepunkt. Manchmal glaube ich, es wird nie ganz aufhören mit dem Heimweh nach der Stadt, in der ich immerschon sein wollte und aus der ich niemals freiwillig weggegangen wäre. Aber nunja, wir sind ja nicht bei wünschdirwas, sondern bei soisses, näch? Ich bin jedenfalls immer und egal aus welchem Anlass ich in die Stadt komme (an dieser Stelle Grüße an den besten Zahnarzt der Welt) fröhlich, wenn ich in Hamburg einlaufe.

Grünspan, Donnerstag, 20.12.2018, circa 19:40 Uhr. Wenn warten lohnt… Und um kurz nach halb neun war es dann soweit und Selig haben Selig gespielt, das ganze Debutalbum. “Lasst uns feiern, als wäre 1994”, so der Eingangssatz von Jan, und da es 1994 bekanntermaßen noch keine Smartphones gab, folgte die Bitte, ebenjene wegzupacken und den Abend einfach so zu genießen und im Herzen mitzunehmen. Nichts lieber als das, ich kann eh nicht gleichzeitig ein Bier und ein Telefon unfallfrei halten, und dann noch mitsingen und tanzen. Deshalb gibt es hier keine Bilder vom Konzert, die sind nur in meinem Kopf. Selig spielt Selig ist eine großartige Idee, das Debutalbum ist nach wie vor mein liebstes und es einmal am Stück live zu hören einfach ein sehr, sehr besonderes Geschenk. Schön, wenn Christian “High” mit “Frei” vertauscht und als einziger schon einen Song weiter ist *gg*. Schön auch die Anekdoten zwischenrein, aus der Zeit, in der vermutlich alle noch Gottes Gräser rauchten und dabei schonmal auf Ideen kamen wie, mit sechs Jacken abwechselnd die sechs Bodenlampen, die den Hamburger Fernsehturm beleuchten, abzudecken und so ein (wahrscheinlich reichlich langsames) Stroboskop zu erzeugen. Selig haben das seltene Talent, ihr Publikum auf eine Weise mitzunehmen, die allen Anwesenden das Gefühl gibt, Teil einer großen Familie zu sein und dasselbe Gefühl zu teilen. Ich kenne keine andere Band, deren Konzerte mich so uneingeschränkt froh machen, auch wenn ich bei “ohne dich” wie immer heulen mußte, und auch wenn das das Konzert beschließende “Fadensonnen” mich nach wie vor sehr anfasst und melancholisch werden lässt. Diese ganze Bandbreite gehört zusammen, und richtig glücklich kann ich nur dann sein, wenn ich spüre, dass neben großem Glück immer auch große Melancholie steht. Ich mag das. Dieser Abend im Grünspan war, so kitschig das klingt, Liebe pur. Und einer für das ganz große Erinnerungsalbum des Lebens.

Fast zwei Stunden, so lang ist natürlich kein Album, haben sie gespielt. In der der ersten Zugaberunde folgten “Schauschau” und “wir werden uns wiedersehen” aus “und endlich unendlich”, was mich sofort in meine Schwangerschaft mit der großen Liese zurückversetzte, in der ich dieses Album rauf und runter gehört habe. “Von Ewigkeit zu Ewigkeit” aus dem gleichnamigen Album sowie das unfassbar gute “Ist es wichtig” aus “Hier” waren auch noch dabei, und ich hätte locker nochmal zwei Stunden zuhören mögen, diese Band ist live einfach unglaublich gut.  Die letzte Zugabe war dann aber wie erwähnt “Fadensonnen”, ein perfektes Schlußstück.

Nach dem Konzert hab ich dann noch ein sehr verwackeltes Bild vom Abbau gemacht, bevor ich durch meine eigene Vergangenheit über den verregneten Kiez in die Jugendherberge am Stintfang gelaufen bin. Ich wollte schon immer mal dort übernachten, mit Blick auf die Landungsbrücken, aber das geht nicht, wenn man in Hamburg gemeldet ist. Endlich mal ein Vorteil des Wegzugs… Ich hatte ein Bett direkt zum Hafen hinaus, und das war dann der ideale Schlußpunkt unter diesen seligen Abend. Einschlafen mit den Geräuschen des Hafens im Hintergrund und einem vor Glück überlaufenden Herz. Ich fühle mich so sehr beschenkt davon, diesen Abend gehabt zu haben.

Dieses Konzert, und dieser Abend ganz für mich alleine haben mich sehr versöhnt mit einem Jahr, das über weite Strecken sehr schwierig war, kraftraubend, anstrengend, an-die-Substanz-gehend. Ich bin froh, dass es bald vorbei ist und dass es einen solchen Abschluß gefunden hat, der mir lange, lange in sehr glücklicher Erinnerung bleiben wird.

#seligisteinzustand. Mein liebster.

Euch allen ein glückliches Weihnachtsfest, und ein frohes neues Jahr 2019.