#notjustsad – Medikamente nach fast neun Jahren

29. September 2016 10 Von Arlette
“Nervenärzte” steht auf dem Schild der Praxis in einem wirklich hübschen Berliner Altbau. 
Ich will da nicht reingehen. Ich war seit 2007 bei keinem Nervenarzt mehr, und ja, das hat sich die letzten knapp neun Jahre immer ein bißchen angefühlt wie rausgestreckte Zunge, der Krankheit gegenüber. “Nänänänä-nä, ich bin stärker, a-hals duhu”. Gestern fühlt es sich daher an, wie eine Niederlage, als ich mit der ningeligen Mini im Gepäck an den Tresen trete und mich anmelde, irgendwas von “dazwischengeschoben, Familienberatung, Kind kränkelt” rede. Ei-gent-lich gibt es keine freien Termine bei Psychiatern, jedenfalls nicht innerhalb von drei Wochen. Und eigentlich nimmt auch niemand sein Kind dorthin mit, wenn er nicht unbedingt muß. Die Mini ist eh ein Seismograph, was meine Verfassung anbelangt. Und ich setze sie diesem Termin aus, na wunderbar.
“Nervenärzte”. Meine Nerven. Augenroll. 
Praxis voll, gehen Sie doch noch ein bißchen spazieren, ist ja auch schöner fürs Kind. Ja. Gern. Sicher. Die Mini schläft nicht ein in der Trage, während wir spazierengehen. Obwohl sie hundemüde ist und eigentlich immer einschläft, beim Tragen.
Als wir wiederkommen, dauert es noch 5 Minuten, das ist echt schnell, und dann begrüßt mich ein Mann, der mich fatal an meinen Vater erinnert. Dieselben braunen Augen, dieselbe hagere Gestalt, ein großer Mann im geringelten T-Shirt der aussieht, wie mein Vater vielleicht aussähe, wäre er nicht krank geworden. Verdammte Scheiße, kann ich bitte wieder gehen? Nein, kann ich nicht, und außerdem, reiß dich mal zusammen und sei ein bißchen erwachsen. 
Nach Wolken kommt Sonnenschein. SPO 2016
 
Der Nervenarzt macht ein eine lockere Anamnese mit mir. Wie lange schon, wann zuletzt, welche Diagnosen, welche Therapien, welche Medikamente, familiäre Neigung dazu eventuell bekannt, und überhaupt, warum eigentlich eine Depression, bei einem augenscheinlich doch normalen Leben, mit dem Wohnungsthema als größter Belastung. Ja, warum eigentlich? Wenn ich das wüßte.  
Der Mann irritiert mich, und es dauert eine ganze Weile, bis ich damit zurechtkomme. Dann aber ist seine etwas flapsige Art, zu reden, genau mein Ding. Er hätte zwei Dinge zu verkaufen, sagt er, Therapien und Pillen. Ich will aber keine Therapie, jetzt gerade. Ich habe so lange Jahre mit Therapien verbracht, ich bin es müde, immernoch. Ich kenne meinen schwarzen Hund gut, und ich will nicht seine ganze Entstehungsgeschichte nochmal wieder ausbreiten, vor einem neuen Therapeuten oder einer neuen Therapeutin. Ich brauche einfach andere Werkzeuge in meinem Köfferchen, um dem Köter beizukommen. Aber ich habe keinen Elan für neue Werkzeuge, den muß ich erstmal wiederfinden. Ich muß mich erstmal entlasten, wie das im Therapiesprech so schön heißt, also will ich jetzt Pillen. Nein, eigentlich nicht. Eigentlich will ich aufstehen und rausgehen, aus dieser Nervenarztpraxis, den sonnigen Herbst genießen und das alles vergessen, diese abgrundtiefe Leere und dieses völlig unbegründete Gefühl von Verzweiflung. Diese lähmende Angst davor, meiner Familie eine Last und unseren Kindern eine schlechte Mutter zu sein. Das Gefühl, verloren zu sein in der Welt, haltlos, nicht fähig, mir Dinge vom Leib zu halten, die mich belasten und behindern. Wie ich das hasse. Und ich komm da nicht mehr raus, seit Monaten nicht, deshalb sitze ich jetzt dort, und deshalb stehe ich nicht einfach auf und gehe, sondern nehme ein Rezept mit, und einen Terminzettel, und den freundlichen Hinweis, doch bitte unbedingt anzurufen oder vorbeizukommen, wenn es schlimmer wird. Das wollte ich nie wieder hören, diesen Satz, der die Worte “bevor Sie sich umbringen, melden Sie sich doch bitte” nur netter verkleidet. 
Ich gehe in die Apotheke, ach, hallo Frau Paula, alle Kinder gesund? Hier ist die Hauptstadt dörflich, die Apothekerin kennt mich mit Schwangerschaftsübelkeit, Milchstau, suppender Kaiserschnittnarbe, kranken Kindern und jetzt auch mit Depressionen. Ich schäme mich, als ich das Rezept auf den Tresen lege, ich möchte im Erdboden versinken und wegrennen, schon wieder. Ich will das nicht. Ich hab verloren, diese Runde geht an den schwarzen Hund und ich gehe nach Hause, recherchieren, ob sich das Medikament mit dem Umstand, dass ich noch stille, verträgt. 
 
Ich habe Angst vor den Nebenwirkungen. Ich will ich selber bleiben, und nicht wieder eine Glasglocke über meinem eigentlichen ich und all meinen Emotionen haben. Ich will nicht vor lauter Müdigkeit die Bande mit irgendwas beschäftigen müssen, wobei sie mich möglichst nicht braucht. Ich fürchte mich. Aber ich hab gerade keine andere Idee mehr, wie es besser werden könnte. Es
kommt wohl auf einen Versuch an.