Mama, erzähl von dir und Hamburg

17. Juni 2017 3 Von Arlette
Ich hab es nicht gekauft, als ich gestern mittag davorstand. Als ich am Abend ganz heimwehkrank wieder in Berlin gelandet war, habe ich in der Buchhandlung angerufen. Sie schicken es mir. 
(der Mann liest gerade den ersten Satz, und findet mich ein bißchen doof, weil ich es nicht gleich gekauft hab. Ich hab mich nicht getraut, ich wohn ja immerhin schon so lange nicht mehr da. Ich und Hamburg, das gibt’s ja so gar nicht mehr)

 Ich liebe die Heinebuchhandlung im Hamburger Grindelviertel. Ich weiß gar nicht, wieviel Zeit ich da während meines Studiums alleine draußen an den Tischen mit preisreduzierten Büchern verbracht habe. Gestern, nach einem Kontrolltermin beim Zahnarzt und auf dem Weg zum Treffen mit einer ehemaligen Arbeitskollegin, bin ich wieder mal hängengeblieben. Und habe eine halbe Stunde lang alle möglichen Bücher in der Hand gehabt, reingelesen, wieder weggelegt, weitergeguckt. Das war so schön.
Ich war in Hamburg, wiedermal, und allein. GANZ allein, alle Kinder waren in Berlin geblieben.

27 Stunden meine Stadt und ich. Die Nummer beim Zahnarzt blende ich mal eben aus, meine Wange sieht immernoch aus, wie ein Michael-Schumacher-Gedächtniskinn, aber das wird schon wieder. Implantate setzen ist halt aufwändig, und schmerzhaft obendrauf. Egal, ich hab einen Grund gehabt für einen Übernacht-Aufenthalt in Hamburg. Danke, Diana, dass ich wieder bei euch schlafen konnte. Das ist ein bißchen, wie Zuhause sein, so nahe der letzten Gegend, in der ich in Hamburg gewohnt habe.

Ich bin oft umgezogen in meinen gut 13 Hamburgjahren, ich habe in Sankt Georg und auf Sankt Pauli gewohnt, in Ottensen, in Altona, in Eimsbüttel und die letzten Jahre in Lokstedt. Und während meines Studiums am Rande des Grindelviertels, in einer Wohnung, aus der ich auf den Wasserturm in der Schanze und den Heinrich-Hertz-Turm gucken konnte. Schräg gegenüber vom Eingang zu Planten un Blomen. Das Haus steht schon gar nicht mehr, es wird gerade neu gebaut auf dem Grundstück, und ich wette, ich könnte mir eine Wohnung dort heute gar nicht mehr leisten.

 Und da war ich dann gestern morgen mal wieder, für einen ausgiebigen Spaziergang, und habe es so genossen, gefühlt ganz alleine sein zu können. Planten un Blomen ist ein so wunderschöner, vielseitiger Park, das ist wie ein Kurzurlaub.

Der Fernsehturm. Ich hab vor vielen, vielen Jahren mal einen mächtigen Blitz dort in die Spitze fahren sehen, und das nie vergessen. Das war ein beeindruckendes Gewitter, in einer der schwärzesten Lebensphasen, an die ich mich bis heute erinnern kann.
Ich bin also nicht so naiv, zu glauben, in Hamburg wäre immer alles besser und meine Depression leichter erträglich. Dazu weiß ich bis heute zu gut, wie bescheiden es mir auch dort oft ging. Und Diagnose und die langen Therapiejahre haben auch dort stattgefunden, und nicht in Berlin.

Trotzdem fühle ich mich dort eben verwurzelt, zu Hause, hingehörig. Ein Gefühl, was ich in Berlin einfach nicht habe. Und das macht schon auch was aus, dieses ewig heimatlose.

Hier ist gut sitzen und einfach mal nix denken und nur sein.
Gedacht habe ich an dieser Stelle trotzdem schon viel, Unsinn und tiefsinniges, lustiges, optimistisches und trauriges. In diesem Park hab ich Liebeskummer gehabt, und war schwerst verliebt.

Als ich gestern dort war, hab ich es aber einfach nur genossen, mit einem Kaffee alleine zu sein, nicht reden, nicht denken, einfach nix müssen. Das war wie einmal Akku schnell-laden.

 Als ich dieses Foto gemacht habe, fielen ein paar dicke Tropfen in den Teich. Kurz danach ging der erste von mehreren Platzregen runter, aber wenn ich dieses Wetter irgendwo anders als in SPO noch mag, dann hier. Hamburger Wetter halt. Passt schon.

Ich hätte wohl den ganzen Tag dort bleiben können. Das hätte bestimmt auch der Bande Spaß gemacht, es gibt einen tollen Spielplatz, und darüber hinaus einfach viel zu entdecken. Ich mag, dass dieser Park von Dammtor bis nach Sankt Pauli reicht, dass er so viele Ecken und Winkel hat, in denen man ganz allein sein kann, und dass er so sauber und gepflegt ist.
Einer meiner liebsten Plätze in der Stadt, von Anfang an.

Ich weiß noch, dass ich im Sommer 1996 mal ein Konzert an der Wasserlichtorgel gesehen habe. Seinerzeit war ich erst seit ein paar Wochen endgültig in der Stadt, und alles war noch so neu und aufregend und spannend, und die Welt ein einziger Basar der Möglichkeiten. Wie das Leben eben so sein kann, wenn man gerade knapp 21 ist. Das war ein wunderschöner Sommer. Wie kann der schon 21 Jahre her sein?

Dammtorbahnhof, gestern, 13:24 Uhr. Kurz vor Einfahrt des Zugs zurück nach Berlin. Und immer, immer, immer fällt mir der Abschied schwer und würde ich am liebsten meine Sippe herhexen können, und hierbleiben. Auch, wenn mich das weder für immer gesund machen würde, noch ein easypeasysunshine-Leben garantieren. Aber hier will ich eigentlich sein.
Wie ich an der Stelle zu meinen Kindern öfter mal sage, wohnt Herr Will allerdings im Keller. Wir sind halt nicht bei wünschdirwas, sondern bei soisses. An Tagen wie gestern kann ich den Frust, den meine Bande damit zeitweise hat, sehr gut nachvollziehen. Kommt halt mit 41 nicht mehr so ganz gut, sich auf den Boden zu werfen, mit den Füßen zu strampeln und lauthals zu schluchzen “ichwiiiiiihiiiiiiiiilllllaaaaaaaaaberbiiiiihiiiiittteee”.
Und ändert darüber hinaus nichts.
Also bin ich halt erwachsen und vernünftig und hör jetzt auf zu jammern und mach das Beste draus. Es gibt schließlich echt schlimmeres, als nicht da wohnen zu können, wo man sich das so erträumen würde, näch?
Tschüß, Hamburg, meine Liebe. Bis bald.